Das Konzept der „Meritokratie“ hat in jüngster Zeit an Popularität gewonnen. Sein Versprechen, den Aufstieg der besten und meisten verdienten Talente zu gewährleisten, zeichnet das Bild einer idealen Geschäftswelt. Doch was genau ist eine Meritokratie?
Meritokratie wird verstanden als „ein gesellschaftliches System, in dem Leistung oder Talent die Grundlage dafür ist, Menschen in Positionen einzuordnen und Belohnungen zu verteilen … alle haben die gleiche Chance, voranzukommen … unabhängig von Geschlecht, Ethnie, sozialer Herkunft oder anderen nicht leistungsbezogenen Faktoren“ (Castilla & Benard, 2010). Mit anderen Worten: Meritokratie ist ein Organisationssystem, in dem Entscheidungen rund um den gesamten Mitarbeitenden-Lebenszyklus (Rekrutierung, Bewertung, Aufstieg und Vergütung) auf individueller Leistung basieren sollen – typischerweise definiert als Performance, Talent oder Potenzial.
In der Praxis ist “Verdienst“ jedoch kein objektiver oder universeller Massstab, sondern ein sozial konstruiertes und interpretatives Konzept, das von kulturellen Normen, systemischen Vorurteilen und den persönlichen Erfahrungen von Führungskräften geprägt wird. Wenn Verdienst nicht objektiv definiert ist, besteht viel Raum für Subjektivität. Die meisten Unternehmen interpretieren Verdienst anhand quantitativer und qualitativer Leistungen, persönlicher Eigenschaften und Potenziale (Castilla & Ranganathan, 2020). Individuelle Vorurteile hinsichtlich Eignung, Begabung und Potenzial können Bewertungen verzerren und das Urteilsvermögen trüben.
Tatsächlich wenden Führungskräfte häufig entweder fokussierte (quantitative, leistungsbasierte) oder diffuse (qualitative, personenbezogene und teambezogene) Interpretationen von Leistung an (Castilla, 2020). Diese Subjektivität bedeutet, dass meritokratische Systeme ohne gezielte Anstrengungen bestehende Ungleichheiten eher verstärken als abbauen. Eine Studie des Massachusetts Institute of Technology zeigt eindeutig, dass Organisationen mit meritokratischen Werten häufig besonders starke Verzerrungen aufweisen, insbesondere in Bezug auf das Geschlecht (d. h. sie bevorzugen Weisse Männer bei ihren Personalentscheidungen).
Warum ist das so? Wenn Führungskräfte in pseudo-meritokratischen Organisationen tätig sind, glauben sie, besonders unparteiisch zu handeln – was ihnen (oft unbewusst) Freiraum gibt, Vorurteile wirken zu lassen. Zudem neigen Menschen, die sich selbst als vorurteilsfrei sehen, weniger dazu, ihr eigenes Handeln zu hinterfragen. Castilla und Benard bezeichnen dies als „das Paradox der Meritokratie” (2010).
Ohne gezielte Massnahmen zur Reduzierung von Subjektivität und Bias können sogenannte meritokratische Systeme Privilegien und bestehende Ungleichheiten verfestigen, statt sie zu überwinden. Hier kommt DEI (Diversity, Equity & Inclusion) als entscheidende Zutat ins Spiel. Echte Meritokratie erfordert hohe Objektivität und Transparenz, fairen und gleichberechtigten Zugang sowie Chancengerechtigkeit – Inklusion ist der Wegbereiter, der dies ermöglicht.
Diese Voraussetzungen müssen Organisationen erfüllen, um eine echte Meritokratie aufzubauen:
Daher ist Meritokratie kein fixer Zustand, sondern ein Ziel, das kontinuierlich weiterentwickelt werden muss. Nur durch inklusive Praktiken – valide Bewertungssysteme, Bewusstsein für Vorurteile und Chancengleichheit – können Organisationen wirklich ein Umfeld schaffen, in dem Fairness gedeiht. „Inklusive Leistungsbewertung bedeutet, Systeme zu entwickeln, die Talente in all ihren Formen erkennen und belohnen“ (Praslova, 2025).
Es reicht nicht aus, Führungskräfte und Recruiter zu sensibilisieren und zu schulen, um Vorurteile abzubauen, wie Iris Bohnet und Siri Chilazi in „Make Work Fair“ überzeugend zeigen (2025). Was funktioniert tatsächlich? Ein strategisches, unvoreingenommenes und transparentes System, in dem Verdienste auf Basis eines gemeinsamen Verständnisses von Performance und inklusivem Verhalten zum Gesamterfolg der Organisation beitragen. Wahrnehmungs- und strukturelle Barrieren müssen beseitigt werden, um sicherzustellen, dass die besten und verdientesten Talente aufsteigen können. Andernfalls werden zu viele potenzielle Kandidat:innen in jeder Phase des Talentzyklus übersehen: Sie müssen zuerst einmal als valable Kandidat:innen sichtbar gemacht werden, um für die Rekrutierung berücksichtigt zu werden, sie müssen als Talente fair bewertet werden, auch wenn sie nicht dem Bild eines typischen Managers entsprechen, und sie müssen fair und respektvoll behandelt werden, damit sie dem Unternehmen treu bleiben.
Inklusive Führung stellt erprobte Werkzeuge und Praktiken bereit, damit alle die Voraussetzungen für ihren Erfolg erhalten. Unternehmen, die sich zu DEI bekennen, verfügen meist schon über transparente Prozesse und gerechte Strukturen, die ein meritokratisches System erfordert.